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Die andere Seite

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal mehr als vier Stunden geschlafen habe. Dauernd kreisen meine Gedanken rund um unsere letzten Entscheidungen. Es war ein zähes Ringen. Unterschiedliche Interesssen und alle zerren und ziehen an einem. Bin ich letztlich mit dem durchgekommen, was ich wirklich für richtig halte? Wahrscheinlich nicht ganz. So wie das mit Kompromissen halt so ist. Mehr ging nicht. Besser ging nicht. So sage ich mir immer – wissen tu ich es nicht. Da ist ganz viel, was ich nicht weiß. Was wir nicht wissen. Prognosen, Zahlen, Daten. Und gefühlte tausend Meinungen. Und letztlich wiegt jede Entscheidung schwer. Volle Intensivstationen. Die Menschen leiden und sterben. Jüngere und ältere. Gesunde und kranke. Die Menschen brauchen Freiheit – und Alltag. So wie ich ihn auch bräuchte. Umarmungen fehlen. Nähe fehlt. Sogar der Händedruck fehlt… 

Das alles ist letztlich ein internationales Herantasten. Versuch und Irrtum. Niemand hatte je mit so einer Sache zu tun. Klar machen wir Fehler. Wie auch nicht? Die Fehler wiegen schwer, weil die Entscheidungen schwer wiegen. Aber auch der Umstand, einer sein zu sollen, der keine Fehler machen darf, wiegt schwer. Facebook und Twitter tu ich mir selber nicht mehr an. Die Worte gehen mir an die Nieren. „Versager!“ schreien sie. „Trottel“ oder „Möchtegern-Politiker“ müsste ich da lesen. Und das waren noch die nettesten Worte…

„Chaos“ und „irritierende Kommunikation“ – in den Printmedien klingt das zwar netter, als in den „sozialen“ Netzwerken, aber… naja. Ich tu, was ich kann. Und ich halte Kritik aus. Gut sogar. Muss ich auch, den ich bin ein Demokrat. Und ich hab selbst genug kritisiert. Aber letztlich wird alles, was ich tue, für die einen oder anderen nicht gut sein. Nicht genug sein. Zu viel sein.

Ich hoffe, wir halten durch – und die Menschen mit uns. Anders werden wir aus der Sache nicht rauskommen…

Ein fiktives Selbstgespräch von …. Die Leserin / der Leser kann hier wahlweise „Minister*in“, „Bundeskanzler“, „Präsident*in“, „Landeshauptfrau“,… einsetzen. Vielleicht liege ich mit dieser Schilderung auch daneben, aber in den letzten Wochen geh ich gedanklich öfter in eine solche Perspektive und überlege, was ich zu mir selber sagen würde, wäre ich in der Position des Entscheidungsträgers. Die andere Seite macht was mit mir. Auch wenn ich selber auch der einen oder anderen Maßnahme kritisch gegenüberstehe, manches nicht verstehe, manches gar nicht gut finde. Facebook verwende ich nur noch selektiv. Manchmal lass ich mich zu einem Kommentar hinreißen – nur um es nachher gleich wieder zu bereuen. Die rohe Sprache halte ich nur schwer aus. Die allgegewärtige Schuldfrage hängt mir schon zum Hals raus. „Wer ist schuld an…“ ist die Frage unserer Dekade. Auch wenn man weiß, dass derart komplexe Themen wie eine Pandemie die Frage nach der Schuld sinnlos machen, stellen wir sie weiter. Und wir machen Schuldige aus, fallen über sie her, stellen sie an den Pranger. Mittelalterlicher Marktplatz reloaded – in den vermeintlich sozialen Medien. 

Ich wünsche mir so sehr

  • dass wir das Engagement von so vielen – auch das der Entscheidungsträger*innen wertschätzen und anerkennen (unabhängig davon, ob wir mit konkreten Entscheidungen übereinstimmen oder nicht)
  • dass wir eine Fehlerkultur, die wir selbst gerne in Anspruch nehmen, auch jenen gegenüber leben, die wir per Wahl zum Treffen von Entscheidungen autorisiert haben (auch dann, wenn wir sie nicht gewählt haben)
  • dass wir konstruktiv kritisieren und damit andere Wege und Horizonte aufzeigen (selbst wenn das Gegenüber unsere Wege und Horizonte nicht aufnimmt oder hören will)
  • dass wir uns gegenseitig als Menschen wahrnehmen, die alle betroffen sind. Menschen, die leiden, lieben, lachen, träumen. Menschen, die Fehler machen. Menschen, die hoffen, vertrauen, Angst und Verzweiflung spüren. Und dass sich diese Wahrnehmung in unserer Sprache niederschlägt, die wir in unseren Artikeln und Postings verwenden.

In einer Situation, die verunsichert und Angst macht, die uns an unsere Grenzen führt und darüber hinaus, die in einer solchen Form noch nie da war, fällt uns das nicht immer leicht. Aber ich wünsch es mir. Weihnachten kommt.

Bild: pixabay.com / CC0-Public Domain

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