Europa: Zeit der engen Grenzen?

Überzeugte Europäer müssten weiter denken, als bis zur eigenen Nasenspitze. Nationalstaaten, die mehr und mehr Grenzen aufbauen – innerlich wie äußerlich – beschädigen die Europäische Union nachhaltig.

Meine engen Grenzen.
Meine kurze Sicht lege ich vor dich.
Wandle sie in Weite,
Herr, erbarme dich.

Manchmal kommen mir Lieder in den Sinn. Das Lied „meine engen Grenzen“ müsste derzeit von der europäischen Union gesungen werden. Ganz laut müsste momentan Österreich mitsingen, das sich offenbar schon ganz von europäischen Werten verabschiedet hat.

Was Europa nämlich wirklich bräuchte, wäre Weite und Mut zur Solidarität. Was Europa wirklich bräuchte, wären gemeinsame Werte. Diese Wertebasis, die in der euopäischen Grundrechtscharta eigentlich eine gute Zusammenfassung gefunden hat, trägt die Protagonisten unserer Politik offenbar nicht mehr.

In meiner Schulzeit wuchs bei mir die Begeisterung für die europäische Idee. Nach den dunklen Abgründen des 20. Jahrhunderts schien man sich endlich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, nicht auf die Gegensätze. Mit viel Engagement diskutierte ich damals mit meinem Geschichtelehrer, der ein erklärter EU-Gegner war, und der mit seiner Bereitschaft, mit seiner Klasse über Zeitgeschichte zu diskutieren, mein Interesse für Politik und Gesellschaft wesentlich geprägt hat. Für diese Möglichkeit bin ich ihm heute noch dankbar.

Später, die Entwicklung der EU interessiert verfolgend, hat mich vor allem eins aufgeregt: Österreichische Politiker haben vor Wahlen immer darauf hingewiesen, wie sehr sie in Europa österreichische Interessen vertreten. Welch ein Irrsinn! Sie sollten doch europäische Interessen, gemeinsame Interessen vertreten! Es gab aber immer wieder Persönlichkeiten, die ich als überzeugte Europäer wahrgenommen habe, wie ein Johannes Voggenhuber oder ein Othmar Karas.

Den Euro hab ich fast mit Euphorie begrüßt und die zaghaften Versuche, gemeinsame Identität zu schärfen, wie die kleinen blauen Streifen auf allen EU-Nummerntafeln, fand ich gelungen. Und dann setzte ich meine großen Hoffnungen auf den Versuch, eine europäische Verfassung zu entwickeln. Und war unglaublich enttäuscht, als die nationalen Regierungen die Anstrengungen des Verfassungskonvents mit der Idee, doch möglichst viel für das „eigene“ Land herauszuholen, zunichtemachten.

Vielleicht ging ja auch alles zu schnell. Und ganz sicher hat man verabsäumt, die Bevölkerungen einzubinden.

Dass aber nun die europäische Idee von einem Land nach dem anderen zu Grabe getragen wird, zerreißt mir mein europäisch geprägtes Herz. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist ja tatsächlich vor allem eine Solidaritätskrise. Dass ein Staatenbund mit mehr als 500 Millionen Mitgliedern auch einige Millionen Flüchtlinge aufnehmen könnte, wenn er nur wollte, ist meiner Meinung nach evident. Aber die Solidarität scheiterte schon ganz zu Beginn. Die Anstrengungen gingen in die völlig falsche Richtung. Schon vor einiger Zeit beschwor unsere Innenministern eine „Festung Europa“ – angesichts der Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, eine grausig zynische Aussage.

Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Polen – und jetzt auch Österreich. Mehr und mehr Nationalstaaten ziehen die eigenen Grenzen möglichst klein – oft direkt hinter den eigenen Brettern vorm Kopf.

Als vor nicht allzu langer Zeit Banken hie und dort zu retten waren, gelang es durchaus, sich an einen Tisch zu setzen und so lange zu diskutieren, bis dass hunderte Milliarden Euro locker gemacht wurden. Und heute ist es unmöglich, ähnliche Ressourcen für eine adäquate Hilfe vor Ort locker zu machen? Wo bleibt die gemeinsame Wertebasis?

Heute schart man lieber scheinbar Gleichgesinnte um sich, und lädt wesentlich beteiligte und betroffene Partner gar nicht ein. Ich verstehe die Reaktion Griechenlands auf diesen ungeheuerlichen diplomatischen Fehler unseres Außenministers nur zu gut. Wieder hat man die Grenzen zu klein gezogen. Wieder schaut man auf die eigenen vier Wände, anstatt auf das gemeinsame Haus zu denken. Es macht mich wütend und traurig, welch Kurzsichtigkeit in der „europäischen“ Politik Platz greift.

Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass die europäische Idee richtig ist. Dass Gemeinsamkeit Vorrang vor den eigenen Vorteilen hätte. Es bräuchte gedankliche Weite und den Mut, einmal getroffene Entscheidungen gemeinsam durchzutragen. Es bräuchte den Mut zu Ehrlichkeit und zur Beteiligung der Bevölkerung. Es bräuchte positive Initiativen und das Bekenntnis zur positiven Vielfalt, um den kruden Gedanken der Rechtspopulisten entgegenzutreten. Es bräuchte Prinzipien wie Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl nicht nur in Parteiprogrammen, sondern in den Köpfen der handelnden Personen.

Ich hoffe, dass es für neue europäische Initiativen noch nicht zu spät ist. Ich hoffe, dass die Idee eines vereinten Europas nicht gescheitert ist. Noch gäbe es die Möglichkeit, das Ruder herumzureißen. Fragwürdige Ideen, wie die jüngste Konferenz in Wien, dienen der gemeinsamen Sache in keiner Weise.